Nachrichten

Nachrichten

27. Dezember 2018

Kenntemichs Medien Kolumne

Was wir aus dem Fall Relotius lernen sollten

Nein, ich will nicht einstimmen in den vielstimmigen Chor der Entsetzten, Betrübten, Betroffenen. Viel zu viele Stellungnahmen aus der Branche klingen schon so, als wolle man zwar alles im Fall des Fantasy-Reporters Claas Relotius ordentlich aufarbeiten, aber dann doch lieber wieder zur Tagesordnung übergehen: Ein unglaublicher Einzelfall, ein Einzeltäter, der mit krimineller Energie und raffinierter Täuschung an allen Kontroll- und Sicherheitsmechanismen vorbei die genialen Reportagen in die Medien gebracht und die Preisjurys beeindruckt hat. Anderen wiederum passt es gerade gut ins Geschäftsmodell, endlich mal dem SPIEGEL eins auszuwischen. So beklagt die ehemalige SPIEGEL-Edelfeder Cordt Schnibben in einem Facebook-Post die Instrumentalisierung des Betrugs „durch manche Journalisten“. Relotius werde „benutzt, um alte Rechnungen zu begleichen“.

Bemerkenswert ist für mich ein SPIEGEL-Interview mit Giovanni di Lorenzo, dessen ZEIT ebenfalls vom Relotius-Virus befallen ist. Über den Spiegel sagt Di Lorenzo, das Magazin neige dazu, „einen Sachverhalt möglichst attraktiv zu dramatisieren“. Und: „Es gibt Verselbstständigungen im Genre oder im Rechercheansatz, die spezifisch sind für bestimmte Häuser, bestimmte Medien.“ Es gebe „diesen Kult der schön geschriebenen Reportage, die allerdings „manchmal so schön geschrieben“ sei, „dass in der Luft liegt, dass irgendetwas daran nicht stimmen kann.“ So habe es in der Jury des Nannen-Preises Zweifel an den nominierten Geschichten von Relotius gegeben. „Wenn es uns in der Jury so ging – gab es dann nie irgendeinen Zweifel in der Redaktion?“, fragt Di Lorenzo, räumt aber ein: „Dass die Geschichten ganz erfunden sein könnten, darauf wäre auch ich im Traum nicht gekommen.“

Inzwischen kommt mehr und mehr ans Licht, dass zahlreiche interne und externe Hinweise und Warnungen in der Redaktion des SPIEGEL nicht ernst genommen wurden. Und auch der SPIEGEL-Kollege Juan Moreno, der den Fall am konsequentesten verfolgte, wurde viele für ihn quälende Monate lang als Täter statt als Opfer gesehen. Spätestens hier beginnt die These vom Einzeltäter mit gespaltener Persönlichkeit, der so raffiniert war, dass man ihm nicht beikommen konnte, zu zerbröseln. Spätestens jetzt stellt sich die Frage, ob wir nicht mehr tun müssen, als lediglich in Schockstarre zu verfallen. Ok. Die neuen SPIEGEL-Chefs machen das einzig richtige – sie gehen in die Offensive und wollen personelle und organisatorische Konsequenzen ziehen. Vielleicht wäre es ja aber an der Zeit, endlich grundsätzlicher über die Ursachen des fortschreitenden Vetrauensverlusts auch der Medien nachzudenken. Mein viel zu früh verstorbener Kollege und Freund Prof. Wolfgang Donsbach hat schon vor 20 Jahren entsprechende Hinweise und Warnungen wissenschaftlich untersucht und publiziert („Entzauberung eines Berufs“, 2009).

Haben die Betrügereien System, sind sie gar Teil des Systems? Rainer Stadler, seit 1989 bei der Neuen Zürcher Zeitung NZZ, hält in seiner Kolumne der zur Selbstgerechtigkeit neigenden Medienbranche den Spiegel vor. Er erinnert an weitere spektaktuläre Betrugsfälle, die sich mit Namen wie Tom Kummer („Weltwoche“), Jayson Blair („New York Times“), Stephen Glass und renommierten Medien wie der „Washington Post“, Sky TV, TF1 und „USA Today“ verbinden. Dabei hätten die Betrügereien nicht etwa schlecht dotierte, kleinere Medien in Zeitnot überlistet, sondern gut mit Kontrollmechanismen ausgerüstete große Redaktionen. Für Stadler ist hierbei ein Muster erkennbar. Die betrügerischen „Journalisten“ seien vom Ehrgeiz getrieben, eine perfekte Geschichte mit Wow-Effekt zu schreiben und abzuliefern, welche das Publikum mit höchstem Genuss lesen würde und denen Journalistenpreise fast sicher seien. Für den NZZ-Medienexperten ist es aber auch der Medienbetrieb, „der falsche Anreize setzt“. Er lasse sich vom schönen Wort blenden und verachte die „Langweiler“, die seriös, aber unspektakulär die Weltlage reflektierten. Doch, so Stadler, „die Realität ist oft sperrig und lässt sich schlecht in runde Erzählungen zwängen“.

Nicht erst seit Donsbach wissen wir, dass vor allem auch die digitalen Vebreitungsmöglichkeiten von Medieninhalten zu einem zunehmenden Aufmerksamkeitsdruck geführt haben. Boulevardisierung und Banalisierung haben mehr und mehr um sich gegriffen. Statt solidem Handwerk war nun vor allem der Hype gefragt. Inszenierung übertrumpfte aufwändige Investigation. Konkurrenz- und Zeitdruck taten ihr Übriges. Aber auch das Credo einiger Medienexperten, die Journalisten müssten angesichts der Informationsflut vor allem Haltung zeigen, hat womöglich bei einigen den Reflex ausgelöst, harte, überprüfbare Fakten nicht mehr allzu wichtig zu nehmen. Inzwischen wird der Vertrauensverlust lautstark öffentlich artikuliert. Und leider ist der Fall Relotius Wasser auf die Mühlen vor allem derjenigen, die „Fakenews“ und „Lügenpresse“ skandieren.

Das EIQ Europäisches Institut für Qualitätsjournalismus setzt dieser Tendenz sein Projekt Media Quality Watch entgegen. Zusammen mit der HTWK Leipzig und unterstützt von der Friede Springer Stiftung haben wir eine interaktive Online-Plattform entwickelt, die im Dialog zwischen Medienmachern, Wissenschaftlern, Experten und dem Publikum Qualität in der digitalen Medienwelt definieren und sichern helfen soll. Mit Nachrichten, Veranstaltungshinweisen, einer Pinwand und einer Online-Fachbibliothek ist bereits am Start. Zugang und Funktionsweise der Diskussionsplattform werden derzeit offline weiterentwickelt. Damit sollen Redaktionen unterstützt sowie Aus- und Weiterbildungseinrichtungen in die Lage versetzt werden, die neue mediale Öffentlichkeit konkret zu erleben und zu begreifen.

Jenseits von Betroffenheitskult und Aufklärungsversprechen lehrt uns der Fall Relotius hoffentlich eins: Handwerk, Handwerk, Handwerk, und Fakten, Fakten, Fakten – dazu gibt es keine Alternative und darauf gilt es sich zurück zu besinnen. Dazu gehört aber auch der Wille zur Transparenz, intern und extern. Dazu gehören Demut vor der wichtigen öffentlichen Aufgabe des Journalismus und eigene Kritikfähigkeit. Wer monatelang Hinweisen auf Betrügereien nicht nachgeht, gehört nicht auf Verantwortungspositionen in Redaktionen. Und wer ausschließlich schöne Geschichten schreiben will, sollte vielleicht eher ins Romanfach wechseln.