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10. Januar 2020

NZZ und die Qualitätsdebatte

Im folgenden macht sich Eric Gujer, Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) kluge Gedanken zu den Herausforderungen und Chancen unserer modernen Medien-Welt:

Vor 240 Jahren, am 12. Januar 1780, erschien die «Zürcher Zeitung» zum ersten Mal. Die britischen Kolonien in Nordamerika hatten sich gerade vom Mutterland losgesagt, die Französische Revolution kündigte sich an. Aufklärung und Industrialisierung veränderten die Welt. Es waren Zeiten des Umbruchs. Solche Phasen der Unsicherheit erfordern Information und Einordnung, und sie fördern das Nachdenken darüber, welchem gesellschaftlichen Zweck Zeitungen dienen. Die Gründer der NZZ trugen dem Rechnung.
Das ist derzeit nicht anders als vor 240 Jahren. Es entstehen neue digitale Angebote, während traditionelle Medien mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfen und sich angesichts fundamentaler Kritik rechtfertigen müssen. Der Vorwurf der «Lügenpresse» ist nur der lauteste. Daneben artikuliert sich weniger lärmend und ruppig ein Unbehagen darüber, ob die Medien die politische und gesellschaftliche Realität noch so abbilden, wie die breite Mehrheit sie wahrnimmt.
Im Internet ist eine Gegenöffentlichkeit entstanden
Im 18. Jahrhundert nutzte nicht nur in Zürich das Bürgertum die Druckerpresse, um sich mit Neuigkeiten zu versorgen. So entstand eine Gegenöffentlichkeit zum Informationsmonopol der Höfe, der Kirche oder der städtischen Magistrate. Heute geschieht Ähnliches, doch diesmal werden die etablierten Medien zur Zielscheibe der Gegenöffentlichkeit bei Facebook und Twitter.
Der frühere «FAZ»-Herausgeber Paul Sethe konnte 1965 noch behaupten: «Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.» Inzwischen ist jeder, der einen Account bei sozialen Netzwerken besitzt, sein eigener Verleger. Die Journalisten haben das Privileg verloren, über das sie seit dem Aufkommen professionell gemachter Tageszeitungen verfügten: Sie sind nicht mehr Gatekeeper, die über Verbreitung von Information bestimmen.
Wohin die neue Macht der Schwarm-Publizistik führen kann, musste der Westdeutsche Rundfunk (WDR) erfahren, als er in einem Beitrag Rentner als «Umweltsäue» verunglimpfte. In den sozialen Netzwerken brach ein Höllensturm los, der den Intendanten zum Kotau und die öffentlichrechtliche Anstalt zur Löschung des Beitrags im Internet bewog.
Die Führungsriege bewies ein feines Gespür für die Verletzlichkeit eines auf Zwangsgebühren beruhenden Geschäftsmodells. Viele WDR-Mitarbeiter hingegen pochen stur auf das angestammte Vorrecht als Gatekeeper. Sie diffamieren ihre im Internet tobenden Kritiker als rechtsradikalen Mob.
Eine Mission, die über Gelderwerb hinausgeht
Realitätsverweigerung ist gerade für Journalisten kein taugliches Rezept. Sie sollten sich darauf besinnen, was ihr Metier seit mehr als 200 Jahren ausmacht und was eine Zeitung von Weissblechdosen unterscheidet. Sie ist ein Stück Identität. Sie nistet sich in den Hirnen und Herzen ihrer Leser ein. Sie ist eben nicht einfach ein Produkt, sondern sie bietet eine Beziehung an. Dafür braucht sie selbst eine Identität und ein Anliegen, das über den Gelderwerb hinausgeht.
Eine Zeitung, ob auf Papier oder in elektronischer Form, muss unverwechselbar sein. Weil sie nicht dem Neutralitätsgebot des staatlich regulierten Rundfunks unterliegt, differenziert sie sich durch ihre politische Haltung und ihren eigenen Blick auf die Welt. Deshalb ist es auch ein Unding, dass Politiker und Bürokraten darüber nachdenken, wie sie private Medien an das Gängelband direkter staatlicher «Förderung» legen können.
Zeitungen tragen zur politischen Willensbildung und damit zum Funktionieren demokratischer und pluralistischer Gesellschaften bei. Auch das ist Teil ihrer Mission, die sie für ihre Leser nachvollziehbar leben müssen. «New York Times» und «Washington Post» haben erkannt, welches grosse Geschenk Donald Trump für sie bedeutet. «Democracy Dies in Darkness», lautet der Claim der «Washington Post». Zeitungen bringen Licht ins Dunkel.
Journalismus darf kein Synonym für intellektuelle Langeweile sein
Die gesellschaftliche Funktion der Medien ist also nicht obsolet, im Gegenteil. Sie wird in einer fragmentierten Gesellschaft eher wichtiger, in der Medien einen Beitrag dazu leisten können, den Austausch über die Gräben von rechts und links aufrechtzuerhalten. Zugleich braucht Journalismus den Mut, sich zu positionieren, sonst ist Journalismus ein Synonym für intellektuelle Langeweile.
Nur wer bereit ist, sich der Kritik auszusetzen und Widerspruch zu provozieren, wird auch Zustimmung erfahren. Schon Franz-Josef Strauss wusste: «Everybody’s darling is everybody’s Depp.» Der Mut zur Mission und die Aufgabe, eine gesellschaftliche Klammer zu bilden, stehen in einem Spannungsverhältnis, über das man – wie eigentlich über alles in diesem Beruf – immer wieder diskutieren sollte.
Das allein genügt aber nicht. Ein weiteres, entscheidendes Element ist nötig. Journalisten handeln mit Vertrauen wie Banker. Beide Berufsgruppen würden vielleicht widersprechen. Die einen verkaufen schliesslich Geld, die anderen Informationen. Fehlt aber das Vertrauen in eine Banknote oder eine Information, sind beide wertlos.
Die Standards der Profis
Leser abonnieren am ehesten dann eine Zeitung, wenn sie eine Vertrauensbeziehung zu dieser unterhalten: wenn sie den Sound eines Mediums, dessen Ansichten und Werte schätzen. Wenn sie sich darauf verlassen können, dass die Informationen geprüft sind. Im Internet ist die Herkunft vieler Texte, Bilder und Videos oft unklar. Die Leser müssten die Vertrauenswürdigkeit der Quelle also selbst kontrollieren, doch das ist aufwendig.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat Vertrauen als einen «Mechanismus zur Reduktion von Komplexität» beschrieben. Medien reduzieren die Komplexität der Informationsbeschaffung erheblich.
Qualitätsjournalismus bereichert das Leben seiner Leser, aber er ist auch ein Convenience-Produkt: Er macht im Zeitalter von Fake-News und «alternativen Fakten» das Leben leichter, weil er für Durchblick sorgt. Angesichts des Überangebots an oftmals dubiosen Informationen werden hohe professionelle Standards, gründliche Recherche und Einordnung wichtiger, also Kernkompetenzen des guten Journalismus. So entstehen Glaubwürdigkeit und damit Vertrauen.
Zu Vertrauen gehört Ehrlichkeit
Im Gegensatz zu den Tagen von Paul Sethe ist Journalismus keine Einwegkommunikation mehr: Der eine sendet, der andere empfängt. Heute müssen Journalisten ihren Leserinnen und Lesern auf Augenhöhe begegnen, und dies nicht nur, weil dank Facebook und Twitter die Medienkritik nur noch einen Klick entfernt liegt. Nein, es geht deutlich tiefer: Je weniger Medien als unnahbare Organisationen wahrgenommen werden, umso enger ist die Beziehung der Leser zu ihnen.
Es ist wie im richtigen Leben. Jemandem vertrauen zu können, hat für uns alle einen hohen Wert, weshalb wir bereit sind, für diese Menschen deutlich mehr Aufmerksamkeit aufzuwenden als für Zufallsbekanntschaften. Pressefreiheit ist daher kein Freibrief zur Selbstverwirklichung der Macher, sondern die Voraussetzung für den Dialog mit der Öffentlichkeit.
Zu Vertrauen gehört Ehrlichkeit – und wenn die publizierende Klasse ehrlich ist, wird sie konstatieren müssen, dass es ihr schwerfällt, Fehler einzugestehen. So konnte die Vertretung der Redaktoren im WDR nicht zugeben, dass es sich mit dem Objektivitätsgebot und dem Qualitätsanspruch des Service public schlecht verträgt, wenn man eine Generation pauschal beleidigt. In solchen Fällen pflegt die Branche schnell ihre demokratiepolitische Stellung als «vierte Gewalt» in Anschlag zu bringen, um sich gegen Kritik zu immunisieren.
Medien sind keine neuen Götter der Moderne
Die Medien sind nicht die Götter der Moderne, die von ihrem Olymp herabblicken auf das Gewusel der Normalsterblichen. Das funktioniert nicht mehr in den Zeiten der Digitalisierung, der grossen und gewaltsamen Gleichmacherin, in denen ein Youtuber mehr Menschen erreichen kann als viele klassische Medien und sich jeder Inhaber eines Twitter-Accounts als künftiger Pulitzerpreisträger fühlen kann, wenn er denn überhaupt noch weiss, was ein Pulitzerpreis ist.
Die Digitalisierung ist eben nicht bloss eine technische und kommerzielle Herausforderung, sondern zielt auf den Wesenskern der klassischen Medien. Sie erfordert die Fähigkeit zur Selbstkritik und das Bewusstsein, dass Leser nicht einfach Empfänger von Botschaften sind. Sie gestalten durch ihre Erwartungen und ihre Reaktionen das Medium mit. Digitalisierung bedeutet Disruption im journalistischen Selbstverständnis. Man sollte den Wandel ruhig positiv sehen: Er gab schliesslich auch den Anstoss für die Gründung der NZZ.